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Strategiediskussion
 

Über die Mitte der Gesellschaft – wenn sie verloren geht

8. Juli 2011
By oradmin

Im April erschien auf TV-ORANGE ein Bericht über Billigland, Geiz und gesellschaftliches Abseits – eine Lebensgeschichte aus der Provinz. TV-Orange interviewte Herrn Hans-Udo Sattler, selbstständiger Unternehmer und Wolfgang Theophil vom Fraunhofer Institut zu diesem Thema. Beide sind über Jahrzehnte politisch und sozial engagiert. Ihre Erfahrungen von und über Parteien reicht von SPD bis Grüne, von sozialen bis hin zu freien Wählergemeinschaften und Parteien. Artikel TV-ORANGE (http://tv-orange.de/2011/04/burn-out-wenn-die-mitte-verloren-geht/)


TV-Orange: Der von Ihnen veröffentlichte Artikel zeigt plastisch anhand des Schicksals eines Ladeninhabers, wie die Mitte unserer Gesellschaft sozusagen verloren geht. Nun könnte man an diesem Beispiel argumentieren: "Die Entwicklung wurde verschlafen, der Mann ist selbst schuld!"

Wolfgang Theophil: (Chefredakteur TV-Orange)
Ich finde, das wäre viel zu kurz gegriffen. Die menschliche Ebene im Zusammenhang der Lebensgemeinschaft im Ort/Stadtteil verdient nähere Betrachtung. Vorgelebte "Werte" des Vaters, seiner Familie weiterzuführen, ein wichtiger Bestandteil des täglichen Lebens zu sein, hat für Firmeninhaber Michael einen wesentlichen Lebensinhalt gehabt. Das gab der Arbeit einen Sinn und den Kunden vor Ort einen verantwortungsbewußten Ansprechpartner. Die gesellschaftliche Position des Mannes innerhalb der Ortschaft hatte Bedeutung und zwar weit über die Funktion des Verkäufers bzw. der Verkaufsstelle hinaus. Das fehlt der Gemeinde und Gemeinschaft nun. Wir erleben einen Burn-Out der Mitte. Den kleinen und mittelständischen Unternehmen ist aufgrund der Supermarkt-Kultur "Geiz ist geil" das Messer an die Kehle gesetzt. Das ursprüngliche Engagement bleibt durch unsere Ex-und-hopp Gesellschaft auf der Strecke.

TV-Orange: Was ist das Bekenntnis zu "sozialer Marktwirtschaft" heute noch wert?

Hans-Udo Sattler: (Autor auf TV-Orange) "Soziale Markwirtschaft" setzt wie beim kleinen Unternehmer auch bei großen Konzernen und Banken Verantwortung für die Menschen und der Gesellschaft, in der diese tätig sind voraus. Soziale Marktwirtschaft, klingt heute beinahe wie ein Märchen aus der Nachkriegszeit, gehört jedoch zu den akzeptierten Allgemeinwerten, auf die das langfristige Funktionieren unserer Gesellschaft und der vielbeschworene "soziale Frieden" basiert. Diese Verantwortung tragen in besonderem Maße nicht nur "verantwortlich handelnde" Unternehmen, sondern auch der Einzelne. In diesem Falle durch sein Konsumverhalten und seine Anforderungen an Produkte, sowie die Bereitschaft, Leistungen und Qualität auch zu entlohnen. Seit vielen Jahren demontieren wir das "soziale" in unserer Marktwirtschaft zu einem beträchtlichen Anteil selbst.

TV-Orange: Und wie könnte unser Staat positive Veränderungen herbeiführen?

Hans-Udo Sattler:
Es ist manchmal schon skandalös, wie unsere öffentliche Verwaltung mit ihrer Ausschreibungspraxis, ehrlich arbeitenden Firmen das Wasser abgräbt. Ich habe es selbst erlebt. Mit meiner eigenen Firma habe ich einmal ein Angebot für Waren abgegeben, das nur 2% über meinem Import-Einkaufspreis lag. Den Zuschlag erhielt ich nicht, man teilte mir mit, ich sei 2% zu teuer gewesen. Noch schlimmer das Beispiel aus dem Artikel: Michael hat für seine Dienstleistungen, der Anlagenpflege in der Gemeinde den kleinsten noch rentablen Stundenlohn veranschlagt. Den Zuschlag erhielt eine Firma, die mit subventionierten Arbeitskräften antrat und eine Anreise von 230km hatte. Diese Form der Auftragsvergabe ist nicht "billig" sie kommt uns letzten Endes alle teuer zu stehen.

Was ich in diesem Zusammenhang gerne als kleinen Exkurs noch loswerden möchte:

Ein weiterer gravierender Punkt für mich ist die mangelnde "Durchlässigkeit" der kommunalen Politik nach oben und das geringe Interesse der Bürger an ihr. Die Landkreise und Gemeinden sind zu Mangelverteilern degradiert. Die kommunalen Politiker haben keinen Einfluss auf die Legislative und die jeweils kommunal Regierenden haben die Möglichkeiten, die immer zu knappen Gelder des Landes und des Bundes – die darüber hinaus immer weiter gekürzt werden- zu verteilen. Fast alles geht für die gesetzlich festgelegten Pflichtaufgaben drauf. Da gibt es keine großen Entscheidungsspielräume. Kreise, Städte und Gemeinden könnten höchstens bei den "Freiwilligen Leistungen" kürzen und im Bereich Kultur. Das sind keine wirklich großen Beträge, um die es dabei geht. Doch genau diese ehrenamtlichen Politiker werden vom Bürger mit den Koch-Mehrins dieser Welt in einen Topf geworfen, obwohl häufig gerade die Ehrenamtlichen sich für ihre Region abrackern und versuchen Spielräume zu eröffnen, Kindergärten, Schulen in Schuss zu halten, die Infrastruktur nicht kaputtgehen zu lassen. All das neben dem regulären Job. Aber was will man tun? Die Kreise haben selbst so gut wie keine Einnahmen, sieht man von den paar Euro für die Jagdpachten mal ab, die vielerorts schon abgeschafft sind. Das Kommunale geht am Krückstock.

Wenn die Fraktionen der Kreistage Änderungen herbeiführen wollen, können deren Vertreter unverbindliche Resolutionen verfassen, ein wenig Rauschen im Blätterwald veranstalten. Ansonsten ist man auf die Parteien-Lobby der jeweils Mächtigen angewiesen, auf gewachsene Verbindungen. Bittsteller wie früher bei der Feudalherrschaft. Der eine oder die Andere ist nicht nur im Kreistag sondern auch im Landtag, selten auch im Bundestag. Denn Ämterhäufung ist ja verpönt. Für die Kreise in diesem System aber wichtig, weil sonst gar nichts läuft. Andersherum werden die Kommunalpolitiker nur nach "oben" gelassen auf die Landeslisten, in die bedeutenderen Posten, die sich in der jeweiligen Partei beliebt gemacht haben – durch Leistung oder Wahlerfolg "Stromlinienförmig" sagen manche. So kommt es natürlich nie dazu, dass das, was unser Wahlrecht "eigentlich" hergibt, tatsächlich passiert: Unabhängige Bürger in den Landtag und den Bundestag. Das passiert überhaupt nicht. Die Wähler sind abgestumpft, weniger als 40% gingen zu den hessischen Kommunalwahlen. So überlässt man es aus Frust denen, die es immer schon gerichtet haben, beschwert sich andererseits aber darüber, dass sich nichts ändert. Da muss man auch einfach mal sagen: Die Bürger kümmern sich nur, wenn es was konkretes gibt, gegen das sie gerade protestieren können. Die politische Verantwortung für seine Region hat er zu Zweidritteln verlernt. Das stört mich sehr, auch wenn ich die Entwicklung dahin verstehe.

TV-Orange: Werden Lebensleistungen in Deutschland gerecht belohnt?

Wolfgang Theophil: Solange das Hauptkriterium für den Wert eines Menschen durch Kreditlinien und Bankenratings irgendwo in einer Bankenzentrale gemessen wird, bleiben Begriffe wie sinnhafte Arbeit und Authentizität rare Luxusartikel. 20 Jahre Lebensleistung wie in unserem Beispiel verdienen Respekt und Anerkennung, doch wo bleibt das in unserem System? Es ist doch vielmehr so, dass der Unternehmer sich völlig verausgabt hat, seine Vorsorge verloren hat, vor dem Nichts steht. Und in unserem Wertesystem, das überwiegend Erfolg als "finanziellen Erfolg" definiert ist er ganz unten angekommen. Dass Michael 20Jahre lang eine wichtige Aufgabe und Rolle in seiner Gemeinschaft erfüllte, wird weder belohnt, noch anerkannt. Er fängt wieder bei Null an. Nach Insolvenzrecht und 6 Jahren werden ihm seine Schulden voraussichtlich erlassen. Für die Banken ist er noch weitere 3 Jahre eine "Persona non grata", dank einer unglaublichen Praxis bei der Schufa, die den Insolvenz-Eintrag noch 3 Jahre lang überall ausgibt, was dazu führt, dass Michael, bis er fast 60Jahre alt sein wird, keinen Kredit mehr erhält, auch keine Kreditkarte.

Hans-Udo Sattler: Das wiederum schränkt nicht nur die Lebensqualität ein, das ganze ist beinahe wie eine fast 10-jährige finanzielle Haft. Man muss hier differenzieren. Das aktive kleine Unternehmen vor Ort, das es trotz größter Anstrengung nicht geschafft hat, für das gilt: mit einer solchen Aussicht ist die Aktivierung von Lebensenergie und die Bereitschaft, seine ganze Kraft und Erfahrung in dieses System zu setzen voraussichtlich nicht gegeben. Für die, die sich nur vor der finanziellen Haftung drücken und das Insolvenzrecht für Finanzabenteuer mißbrauchen, sollte das Gesetz entsprechend modifiziert werden.

TV-Orange: Wie können wir es ermöglichen, dass das Wirtschaften in einer Region für die Region beiderseitigen Erfolg verspricht?

Wolfgang Theophil: Diese Frage setzt bereits eine grundlegende Erkenntnis voraus, etwas zu ändern. Unsere ganze Wachstumsgesellschaft ist seit Jahrzehnten auf Export getrimmt. Mit mittlerweile billigeren Lohnkosten als in vielen anderen europäischen Ländern unterbietet Deutschland den Markt. Doch ist diese Entwicklung gesund, die auf Spekulation eines Exportweltmeisters beruht? Ich meine nein. Genauso wie die Wirtschaft nicht zuerst durch den Erfolg ihrer Produkte sondern irrerweise durch die Aktivitäten der Finanzjongleure – auf deutsch Spekulanten – boomt, genauso anfällig ist eine Produktion und eine unternehmerische Wirtschaft, die nicht zu aller erst den Käufer in der Region findet. Durch diese Wegorientierung des Marktes weg von der Region, vom Binnenland, entstehen weitere Probleme. Das sehen wir gerade in der Landwirtschaft. Eine verrückte globale, Nahrungsmittelverschieberei führt zu unkontrollierbaren gesundschädlichen Folgen. Ananas und exotische Früchte sind heute "selbstverständliches" Marktangebot. Muscheln werden vom Norden nach Marokko transportiert, wieder zurück auf den "deutschen Markt – FRSICH auf den Tisch". Das ist eine unsinnige und unbedachte Essenskultur. Wir brauchen also eine Änderung im Käuferverhalten, eine gesunde Lebens- und Essenskultur.

Und die Politik müsste gezwungen werden, regionales Wirtschaften zu stärken. Die Auftragsvergabe der Kommunen bevorzugt an die Unternehmen vor Ort, wäre ein Anfang. Produkte aus der Region sollten auch in den Supermärkten der Region zu finden sein. Auch die Verbraucher sollten stärker sensibilisert werden.

Hans-Udo Sattler: Ein konkretes Beispiel aus unserer Region: Es scheint mir absolut schwachsinnig und energiepolitisch kontraproduktiv zu sein, z.B. tonnenschweres Mineralwasser aus Italien über verstopfte Autobahnen in unsere Gegend zu karren, wo Selters an der Lahn, die Neuselters-Mineralquellen u.a. wenige Kilometer vor der Türe liegen. Sowas gehört einfach abgeschafft. Ähnliche Beispiele mit anderen Produkten gäbe es sicher für jede Region.

Die große Frage ist, wie können wir gegensteuern, insbesondere bei der Machtlosigkeit der der regionalen, der kommunaler Parlamente, wie kann es gelingen, dass Unternehmer, Angestellte und Konsument wieder direkt in Austausch und Handel kommen? Wie kann es gelingen, dass die Politik hier Maßnahmen ergreifen muß, handelt sie doch fremdgesteuert nach den Interessen der Finanzwirtschaft. Da erscheinen mir grundlegende, politische-strukturelle Reformen notwendig. In unserem Land haben haben sich "Entscheider" am Bürger, am Wähler, an den Regionen, in der er lebt und der Demokratie vorbei selbst ermächtigt.

TV-Orange:
Die Redaktion bedankt sich bei Ihnen dieses Interview. Wir gewinnen durch ihre Ausführungen den Eindruck, dass es eine deutliche Parallele von Individuum und Gemeinschaft gibt. Die Frage nach der richtigen Balance und die Gefahr, die Mitte zu verlieren. Diese Problematik wurde schon in einem anderen Beitrag von TV-ORANGE bestätigt. Dort stand in dem Artikel "Essen bis der Arzt kommt" zu lesen:
"In Wirklichkeit sind wir (die Käufer, Anm. der Redaktion) die Milchkühe, für die sie "billig" produzieren lassen und uns mit chemischen Ballaststoffen, synthetischem Gift und Geschmacksverstärkern, Antibiotika und Gentechnik vollpumpen. … Wie wichtig es ist, daß es eine regionale Wirtschaft mit sich gegenseitig vertrauten Produzenten und Konsumenten gibt. Kein "Wert" Siegel kann geben, was Vertrauen und direkter Kontakt unter den Menschen ermöglicht. Nur eine regionale Wirtschaft auf ökologischer Basis garantiert ein gesundes Leben und nur eine lebendige regionale Gemeinschaft kann auch die sozialen und menschlichen Aufgaben bewältigen."

Wir danken Ihnen.

 

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